ANDACHT vom 26. APRIL 2020 / Deutsch Reformierte Kirche zu Kopenhagen
Wochenspruch:
„Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben." (Joh 10,11a.27-28a)
Ansprache
Liebe Freunde.
In der kirchlichen Tradition nennt man den zweiten Sonntag nach Ostern auch „Hirtensonntag“. Das konnte man auch an dem Wochenspruch aus dem Johannesevangelium sehen, in dem Christus spricht: „Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben."
Auch aus dem Psalm 23 kennen Juden und Christen das Motiv; denn dort wird ja, wie wir wissen, Gott mit einem guten Hirten verglichen, der einen Menschen in schwerer Bedrängnis rettet und erhält.
Es gibt in der Bibel aber auch Stellen, in denen das Bild des Hirten auf Menschen angewandt wird: So wird Petrus mehrfach vom Auferstandenen dazu aufgefordert „seine Schafe“ zu „weiden“. Und im Epheserbrief, wo einiges über den Aufbau der Gemeinde zu lesen ist, heißt es: „Er ist es nun auch, der der Gemeinde Gaben geschenkt hat: Er hat ihr die Apostel gegeben, die Propheten, die Evangelisten, die Hirten und Lehrer.“ (Eph 4,11)
Und auch über die Hirten, die ihren Job nicht gut machen, finden wir Aussagen, eindeutige Aussagen. So sagt der Prophet Jeremia: „Wehe den Hirten, die die Schafe meiner Weide zugrunde richten und zerstreuen! Spricht der HERR.“
Und auch das Urteil des Propheten Ezechiel fällt klar und deutlich aus:
„Du Mensch, weissage gegen die Hirten Israels,
weissage und sprich zu ihnen, zu den Hirten:
So spricht Gott, der HERR:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben!
Sollten die Hirten nicht die Schafe weiden?
Das Fett esst ihr und mit der Wolle bekleidet ihr euch
und die fetten Schafe schlachtet ihr - ihr weidet die Schafe nicht!
Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt,
und was krank war, habt ihr nicht geheilt,
und was gebrochen war, habt ihr nicht verbunden,
und was versprengt war, habt ihr nicht zurückgeholt,
und was verloren gegangen war, habt ihr nicht gesucht,
und mit Macht habt ihr sie niedergetreten und mit Gewalt.
Und weil kein Hirt da war, haben sie sich zerstreut und sind sie zum Fraß geworden für alle Tiere des Feldes,
und so haben sie sich zerstreut.“ (Ez 34, 2-5)
Ja, ganz klar: man könnte am „Hirtensonntag“ 2020 auch etwas über die heutigen „Hirten“ sagen; dieser Text ist 2500 Jahre alt, aber manches klingt wie heute gesagt.
Wer sind denn die heutigen Hirten? Und was sehen sie als ihre Aufgabe an? Ich meine damit nicht nur die Politiker, die an der Macht sind, sondern auch all die anderen, die sich zu Wort melden, um Interessen für diese oder jene Gruppe zu reklamieren, Verbandspräsidenten und Gewerkschaftsführer zum Beispiel, vielleicht auch Bischöfinnen und Bischöfe oder die Pastorinnen und Pastoren.
Was ist die Maxime ihres Handelns? Könnte sie für die gesamte Gesellschaft gelten? Was leitet sie in ihren Entscheidungen und Handlungen? Welche Interessen verfolgen sie, und wen haben sie dabei NICHT im Blick? Sind sie sich ihrer Verantwortung bewusst, bzw. wem fühlen sie sich überhaupt verantwortlich und verpflichtet?
Ezechiel macht klare Ansagen, aber ich fürchte, auch damals gab es etliche, die das nicht interessiert hat. Man kann im Namen der Gerechtigkeit die Stimme erheben, man kann denen eine Stimme geben, die keine Stimme haben oder mit ihrer Not nicht an die Stellen durchdringen, wo ihnen geholfen werden könnte, man kann ungerechte Strukturen anklagen und die Trägheit der Leute, die sie nicht ändern wollen. Ob sich allerdings viel ändern wird, das muss sich erst noch zeigen; ich werde von Tag zu Tag skeptischer.
Natürlich ist das Bild vom Hirten ein Bild aus einer bäuerlichen Gesellschaft, und die ist bei uns schon lange Vergangenheit. Für diejenigen, die mit der Bibel ein bisschen vertraut sind, ist es wahrscheinlich ein kraftvolles und ein aussagestarkes Bild. Aber wir sollten uns nichts vormachen: in einer säkularen und industriellen Gesellschaft, zudem einer freiheitlichen, in der man sich von anderen nicht gerne etwas sagen lässt, ist das Bild vom Hirten längst nicht mehr verständlich oder möglicherweise nicht akzeptabel. „Ich bin doch kein Schaf, was brauche ich einen Hirten.“, höre ich es schon rufen.
Das macht es für Menschen, die sich bereit erklären, Verantwortung zu übernehmen, nicht unbedingt einfacher. Im Gegenteil: Besserwisser, Hobbyphilosophen und selbsternannte Bescheidwisser, die nicht von Sachkompetenz belastet sind, bringen ständig Verwirrung, denn Unwisssen hat selten zum Erkenntnisgewinn oder zum Fortschritt der Menschheit beigetragen.
Damit man mich nicht falsch versteht: Wir leben in der glücklichen Situation, die viele andere auf dieser schönen Welt nicht kennen, dass wir unsere Meinung sagen können, dass wir uns informieren können und unsere Gedanken mit anderen teilen und weiterentwickeln können, ohne dadurch in Lebensgefahr zu geraten. Aber gerade diese Freiheit sollte uns doch dazu befähigen, zu beurteilen, ob wir wirklich etwas zu sagen haben, oder ob wir (noch) nicht Bescheid wissen. Und auch das ist keine Schande, Unwissenheit wird meistens nicht bestraft. Deshalb können wir doch auch einfach, wenn wir noch nicht Bescheid wissen, mal die Klappe halten.
Das ist natürlich in der jetzigen Situation noch schwieriger, weil es im Blick auf die augenblickliche Lage und die möglichen Vorhersagen für die Zukunft sehr viele Leerstellen in unserem Wissen gibt. Das liegt in der Natur der aktuellen Sache – und in Klammern gesagt: vielleicht macht ja gerade der Umgang mit dem Nicht-Wissen auch die Qualität unserer Hirten deutlich.
Trotzdem sollten wir darauf achten, dass diese Leerstellen nicht von Profilneurotikern, Lobbyisten, Ideologen oder Verschwörungstheoretikern besetzt werden.
Wenn wir also über Hirten reden, oder besser gesagt: Wenn WIR über Hirten reden, dann müssen wir auch immer über die Herde, über uns, reden. Und auch das ist nicht einfach: wir wollen nicht die dummen Schafe sein, die folgen doch nicht einfach kommentarlos irgendwelchen Herren oder Herrschern. Das entspricht nicht dem Menschenbild, weder dem christlichen noch dem einer liberalen Gesellschaft.
Trotzdem müssen wir uns doch fragen, was es bedeutet, Teil einer Gesellschaft zu sein, die sich ihrer Diversität bewusst ist und eigentlich sogar stolz darauf ist; und die auch immer komplexer und undurchschaubarer wird. Wir haben Regierende und Repräsentanten, die nicht durch Dynastie oder Staatsstreich an die Macht gekommen sind, sondern durch unsere freie Wahlen, deshalb ist die Balance zwischen Loyalität und dem Recht auf Kritik manchmal schwerer zu finden, als es auf den ersten Blick erscheint. Gerade hier in unserer selbstbewussten, herrschaftskritischen und oft erfrischend egalitären Gesellschaft in Dänemark.
Andrerseits sollten wir eben nicht vergessen, dass dieser Staat es ist, der uns die Bequemlichkeit und Sorglosigkeit erst ermöglicht. Da scheint mir manchmal einiges nicht ausbalanciert.
Wenn ich sehe, wie seit einigen Tagen im königlichen Garten wieder miteinander gefeiert und sich getroffen wird, sehe ich keinen Unterschied zu der Zeit vor den Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19. Abstand halten? Wir doch nicht, das können die anderen ja machen. Mit solch einer hedonistischen Herde hat es jeder Hirte schwer!
Ich komme zu meiner Ausgangsüberlegung zurück: der gute Hirte ist ein Bild für die Fürsorge Gottes, gerade für die, die Hilfe besonders brauchen. Es bedeutet für diejenigen, die darauf vertrauen, Trost und Halt. Ja, das ist es vor allem für die, die dieses selbst erfahren haben. Es ist also eher ein Bekenntnis zu Gott, wenn ich sage: der Herr ist mein Hirte!
Ich kann es auch als Bitte formulieren oder als Gebet um Gottes Hilfe ansehen, aber das Bild entwickelt vor allem bei denen seine Kraft, die daran glauben, dass Ihre Kraft von Gott kommt. Das ist ein Statement. Und sie werden dessen vergewissert.
Wenn aber der Hirte nicht mehr zur Lebenswelt gehört, ist es vielleicht nicht das allerbeste Bild, was wir aktuell über Gott gebrauchen können. Es spricht für manche einfach nicht aus sich selbst. Es werden neue Fragen aufgeworfen, weil man anders über Gott reden möchte.
Vielleicht können wir dem Bild wieder Kraft geben, aber es ist für viele eben nicht mehr selbsterklärend, weil es in unserer Lebenswelt und unserer Gesellschaft das Hirtenbild so nicht mehr gibt.
Wer würde politische Führer heute als Hirten bezeichnen, und würden sie es selber tun? Würde eine mitteleuropäische Gesellschaft am Anfang des 21. Jahrhundert zutreffend als „Herde“ beschrieben werden können?
Nun könnte man natürlich sagen, genau ist das Problem, wir sollten dorthin zurückkehren. Ich weiß nicht, ob das die Lösung ist, aber lass uns anfangen zu reden…
Wir können über Hedonismus und Solidarität sprechen, über Eigeninteressen und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, über das Recht des Stärkeren und den Schutz der Schwachen, über Spaltungen und das Angewiesensein aufeinander, über das Wissen und die Erfahrung der Alten und die Ideen und Vorstellungen der Jungen, über die Zukunft und die Angst davor. Darüber, was sich verändern muss, und darüber, was erhaltenswert ist. Über Gottvertrauen und Selbstverwirklichung…
Als Christen haben wir diese tiefsitzende Zuversicht, dass wir nicht allein sind. Man hat uns nicht einfach hier in dieses Dasein hineingeworfen und gesagt: „nun sieh mal zu, dass Du klar kommst!“
Wir können uns unser Leben nicht denken, ohne zu sehen, dass es da ein Gegenüber gibt, dass ein „Du“ zu meinem „Ich“ gibt, dass mich sieht. Der gute Hirte eben, der mich kennt und den ich kenne, soweit es mein Verstand und mein Erkennen möglich macht.
Vielleicht nenne ich ihn auch „meine Burg“ oder „Allmächtiger“ oder „Ewiger“ oder „Unser Vater“ oder „Mein Fels“ oder einfach „Retter“.
Wir sammeln uns um die alten Bilder, die zu uns sprechen, und können hoffentlich die Hoffnung und die Zuversicht, die daraus kommt, ausstrahlen – und vor allem als Fundament unseres Lebens bewahren. Aber dadurch gewinnen wir eben diese Kraft, von der Jesaja mit einem anderen Bild spricht: „Die aber, die auf den HERRN hoffen, empfangen neue Kraft, wie Adlern wachsen ihnen Schwingen, sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und ermatten nicht.“
Und der Friede, der größer ist als alles, was wir mit unserem Verstand begreifen, bewahre unsere herzen in Christus Jesus. Amen
Andachten / Andagter
Andacht Sonntag, 26. April 2020
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