ANDACHT vom 3. MAI 2020 / Deutsch Reformierte Kirche zu Kopenhagen
Wochenspruch:
"Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden." / 2. Kor 5,17
Text: Mk 7, 31 – 37
Jesus verließ die Gegend von Tyrus wieder und ging über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Zehnstädtegebiet.
Dort wurde ein Mann zu ihm gebracht, der taub war und kaum reden konnte; man bat Jesus, ihm die Hand aufzulegen.
Jesus führte ihn beiseite, weg von der Menge. Er legte seine Finger in die Ohren des Mannes, berührte dann dessen Zunge mit Speichel, blickte zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Mann: »Effatá!« (Das bedeutet: Öffne dich!)
Im selben Augenblick öffneten sich seine Ohren, seine Zunge war gelöst, und er konnte normal reden.
Jesus verbot den Leuten, jemand etwas davon zu sagen. Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt. Die Menschen waren vor Staunen ganz außer sich. »Wie gut ist alles, was er getan hat!«, sagten sie. »Er gibt sogar den Tauben das Gehör und den Stummen die Sprache wieder.«
Selig sind die das Wort Gottes hören und bewahren. Amen
Liebe Freunde.
Biblische Geschichten enthalten selten konkrete Handlungsanweisungen für uns. Auch die Bilder, in denen die Bibel spricht, sind nicht unmittelbar eins zu eins in unsere Wirklichkeit zu übersetzen. Das gilt auch für die Wundergeschichten, auch sie zielen nicht in erster Linie auf ein neues Verhalten unsererseits.
Was sollte es mich heute schon interessieren, dass vor 2000 Jahren am Rande des römischen Weltreiches ein Mann sein Gehör und seine Sprache zurückbekommen hat? Er selbst ist lange tot, und es wurde auch nichts weiter als diese Szene über ihn berichtet.
Es muss also etwas anderes an dieser Geschichte wichtig sein. Das hängt mit dem zusammen, der mit diesem Taubstummen sprach, und vor allem, wie er mit diesem Mann sprach!
Diese Geschichte ist ein Bild für den Umgang miteinander - und dafür, was das bewirkt. Das möchte ich heute zeigen. Aber Bilder zielen nicht direkt darauf, dass ich in meinem Leben etwas ändere, also ein neues Verhalten hervorzurufen. Das würde man anders machen oder anders sagen. Bilder sind eine Art Zwischenschritt, eine Zwischenstufe, nicht der Imperativ, sondern die erklärende Fußnote zu dem, was war und was sein wird. Sie zielen darauf unser Sein und unsere Taten in einem neuen Licht zu sehen oder tiefer zu sehen und die Dinge zu erkennen, die nicht an der Oberfläche liegen. Ja, vielleicht sind Bilder und Symbole ein Weg, dem Geheimnis hinter den Dingen näher zu kommen.
Wir wissen doch, dass wir Menschen lieber zuhören, die in Bildern mit uns reden, anstatt uns nur die Zahlen oder die nüchternen Fakten zu präsentieren. Das ist eine Frage des Zwischenmenschlichen.
Ich will es auch mit einem Bild versuchen: Geschichten, die auf den ersten Blick nicht mit uns zu tun haben, und Bilder – auch wenn sie aus einer anderen Welt stammen – können wie Fenster sein. Fenster, durch die ein neues Licht auf unsere Überlegungen oder unsere Taten fällt. Oder auch Fenster nach außen, die mir einen neuen, unerwarteten Blick auf das eröffnen, was um mich herum geschieht. Plötzlich bin ich nicht länger in meinem Denken eingeschlossen, in meiner Gedankenwelt gefangen, sondern die Welt draußen ist wieder zugänglich und sichtbar.
Die Religionen sind Spezialisten für Bilder. Über ihr Geheimnis, über die Tiefe ihrer Botschaft reden sie in Bildern, anders können sie es nicht. Die Bibel ist voll von Bildern. Was Jesus zu den Menschen sagt, ist ohne solche Bilder nicht vorstellbar.
Die Kraft und das Vermögen von Bildern wird an einer der bekanntesten symbolischen Handlung der letzten Jahrzehnte deutlich. Als Willy Brandt vor fünfzig Jahren als deutschen Bundeskanzler in Polen war, besuchte er das Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos und kniete an diesem Ehrenmal nieder. Es geschah ohne Worte, aber das Bild ging um die Welt. Was mit dieser Geste, diesem Bild ausgedrückt wurde, ist das eigentlich Bewegende. Es ist ein Symbol, das eine Deutlichkeit und Klarheit hat, eine Kraft, die mit vielen langen Reden nicht erreicht werden kann.
Auch die biblische Geschichte heute ist für mich in erster Linie ein Bild. Ich möchte Euch allerdings, bevor ich das im Detail beschreibe, einladen, ein Stück von Otto Malling anzuhören, das Mikael an der Orgel spielen wird und das den Titel „Effatá!“ trägt. Es ist also in direkter Anlehnung an diesen Abschnitt aus dem Markusevangelium komponiert, den wir gehört haben. Malling hatte schon vorher ein seinerzeit sehr populäres Lied mit dem gleichen Titel komponiert, dessen Text von Christian Ernst Richardt stammt, von dem auch „Altid frejdig, når du går“ ist. Und das „Effatá“-Motiv (efffff – ce – deeeeeee / Orgel) dieses Liedes taucht auch in dem Orgelstück auf, das am Ende des 19. Jahrhunderts, also in der Spätromantik entstanden ist.
Anfangs schon in leisem moll im Bass: wenn man genau hinhört, kann man schon ahnen, was später geschehen wird. Später dann in strahlendem Dur und in mehrere Wiederholungen in den hohen Stimmen. Das Motiv markiert den Umschwung in der Geschichte: Jesus sagt zu dem Mann „Effatá!“, „Öffne Dich“ und der Mann kann hören und sprechen. Das ist der Wendepunkt in seinem Leben, aber eben auch in der uns erzählten Geschichte.
Orgel: Otto Malling, „Effatá!“
Diese Geschichte ist vor allem die Geschichte einer Begegnung. Es geht um das Hören und Reden lernen. Es geht um Dinge, die alltäglich sind: dass Menschen verstummen und keine Worte finden, es geht um Mitgefühl und das Wahrnehmen des anderen, bzw. die Voraussetzungen, die dafür notwendig sind, jemand anderen ernsthaft zu sehen und zu erkennen. Es geht auch darum, dass dieses immer im Angesicht Gottes geschieht, der uns auf den Weg schickt und dessen Barmherzigkeit bei uns einen Widerhall findet.
Es lohnt sich genau hinzusehen – und zu entdecken, wie Jesus diesem Menschen begegnet und ihm Schritt für Schritt nahe kommt.
Es beginnt damit, dass er ihn beiseite nimmt. Jesus führt ihn weg von der Menge, er ist nicht länger Teil der Masse, sondern Individuum, eine Person mit einer eigenen Geschichte, eine Persönlichkeit mit Wünschen und Bedürfnissen. Das ist die Voraussetzung: mein Gegenüber als „Du“ ernst zu nehmen und auch so zu behandeln: als eigenständigen, einzigartigen Menschen.
Nur in dieser Atmosphäre sind auch die weiteren Schritte möglich. Denn jetzt kommt Jesus dem Mann näher, näher als wir es im Alltag gewohnt sind.
Zuerst legt er ihm die Finger in die Ohren. Das ist eine zärtliche Geste, solche Berührungen sind selten.
Bei all dem, was um uns herum passiert, mögen wir oft nicht mehr hinhören. Bei all dem, was von außen auf uns einwirkt, ziehen wir es vor, unsere Ohren zu verschließen: zu laut, zu feindselig, zu kritisch, zu ablehnend ist das, was wir hören.
Und dabei verlernen wir es, auf Zwischentöne zu achten, auf versteckte Botschaften in Worten, die alltäglich klingen. Jesus berührt die verschlossen Ohren, so wie berührende Worte unsere Ohren berühren wollen. Wir können Achtung und Liebe in den an uns gerichteten Worten entdecken; und vielleicht bemerken wir sogar in feindselig klingenden Worten eine Sehnsucht nach Ausgleich und Erneuerung.
Die nächste Geste geht noch einen Schritt weiter, als Jesus nämlich die Zunge des Kranken mit Speichel berührt. Er fordert ihn nicht auf, den Mund zu öffnen oder die Zunge herauszustrecken oder sonst etwas. Jesus tut selbst etwas, damit sich die Zunge seines Gegenüber lösen kann.
Wir kennen es, dass wir stumm geworden sind, dass uns Worte im Hals stecken bleiben. In einer Atmosphäre der Angst und Enge schnürt sich uns die Kehle zu. Manchmal haben wir Angst etwas zu sagen, weil wir damit etwas von uns selbst preisgeben. Im Sprechen können wir uns nicht verstecken, das wissen wir. Wir selbst erkennen es doch auch an der Stimme und an der Art des Sprechens, wenn jemand unsicher ist, wenn jemand uns anlügt, wenn jemand Angst hat oder ablenken will.
Wenn wir sprechen, geben wir etwas von uns preis. Davor scheuen wir oft zurück, und um das zu verhindern, werden wir stumm. Oder wir sind unsicher, ob wir die richtigen Worte finden.
Deshalb geht es darum, dass ich dem Gesprächspartner so begegne, dass er oder sie den Mut findet, sich auszusprechen und offen zu reden. Das Vertrauen, dass ich ihn entgegenbringe, löst die Zunge.
Dann blickt Jesus zum Himmel. Warum das? Weil Worte immer mehr sind als variierende Buchstabenkombinationen. Weil Worte nicht nur Träger von Informationen sind, sondern auch Träger von Emotionen. Weil sie einen Sinn haben, der sich in der Begegnung mit den anderen erst erschließt. Mit Worten senden wir Botschaften, aber man kann ein Wort niemals von der Absicht trennen, in der es ausgesprochen wird.
Und: alles was wir sagen und tun, geschieht in dem noch größeren Sinnzusammenhang dieser Welt, der seinen Ursprung und sein Ziel in Gott hat. Wir sagen etwas über uns, aber auch über uns vor dem Angesicht Gottes. Sind wir erkennbar in den Worten, oder versuchen wir uns hinter unseren Worten zu verstecken?
Jesus will uns ein Sprechen lehren, dass uns als Person erkennbar sein lässt, aber eben auch als Person unter dem geräumigen Himmel Gottes, der offen ist für Weite und Geborgenheit.
Danach seufzt Jesus! Normalerweise seufzen wir spontan und unwillkürlich. Das drückt eine unmittelbare Betroffenheit aus. Hier sehen wir, dass Jesus wirklich am Schicksal, an der Person des kranken Mannes Anteil nimmt. Solch ein Mitgefühl kann man nicht spielen. Und das merkt mein Gegenüber ganz genau.
Erst nachdem Jesus diese Schritte gegangen ist, wendet er sich direkt an diesen Mann. „Effatá!“ „Öffne dich!“
Er hat behutsam Schritt für Schritt eine Atmosphäre hergestellt, in der sich der andere öffnen kann. Das ist gelungene Seelsorge. Er hat den anderen ernst genommen und sieht die Person als Kind Gottes vor ihm stehen.
Das kann Augen und Ohren öffnen, das kann Menschen, die stumm geworden sind, das Sprechen neu ermöglichen. Er ist befreit von der Angst, erlöst von dem Druck, der auf ihm lag.
So löst sich die Zunge, und wir können hören, wie ein Jünger hört. So öffnen sich Fenster zum Leben, und es ist möglich, dass Gemeinschaft neu belebt wird.
Diese Geschichte beschreibt, dass jemand Mut findet, und dass er sich öffnet, dass er seine Enge verlässt, nicht länger abgekapselt bleibt. Deshalb ist es eine Geschichte, die nicht nur einen Menschen vor zweitausend Jahren angeht, sondern auch uns, wenn wir verschlossen und sprachlos sind.
Die Verheißung des Textes ist, dass der Aufbruch möglich ist. Ich werde schuldig und scheitere, die Welt begegnet mir unfreundlich und rätselhaft. Das belastet mich, es ist aber nicht das letzte Wort, was über mich gesprochen wird. Jesus macht es vor, er geht so lange auf den Menschen zu, bis er schließlich die Verhärtung aufbricht und die Isolation überwinden kann.
Geht es nicht auch genau darum, wenn wir Gottesdienst feiern? Ist das nicht Auftrag der christlichen Gemeinde in allen Bereichen, dass die Menschen zu hören lernen und zu sprechen beginnen?
Es geht darum, sich zu öffnen – für Gott, für die Begegnung mit anderen – das In sich-gekehrt-Sein abzulegen, das Fenster aufzustoßen, um Licht hineinzulassen und um neue Horizonte zu erfahren, die vor uns liegen. Dann können wir unser Leben und Handeln justieren - und dabei vor allem zum Himmel zu sehen, das heißt uns mit Gott in Kontakt zu bringen und uns IHM zu öffnen.
Vielleicht bedeutet das auch, dass ich seufzen muss – über mich und mein verdrehtes und belastetes, manchmal auch zerrüttetes Leben, aber vor allem zusammen mit denen, die meine Nähe brauchen, deren Lage mich mitfühlen lässt und an deren Not ich nicht unbeteiligt vorbeigehen kann.
In dem Musikstück von Otto Malling haben wir gehört, wie er versucht hat, diesen Wendepunkt musikalisch auszudrücken. Lasst uns dieses „Effatá!“ – Motiv, diese Einladung „Öffne Dich!“ noch einmal hören und nachklingen lassen, damit wir es in unsern Alltag hinübernehmen können.
Und der Friede Gottes, der größer ist als alles, was wir mit unserem Verstand begreifen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, er halte unsere Hoffnung lebendig und bewahre uns auf allen unseren Wegen. Amen
Andachten / Andagter
Andacht Sonntag, 3. Mai 2020
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