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ANDACHT vom 24. MAI 2020 / Deutsch Reformierte Kirche zu Kopenhagen

Wochenspruch aus Joh 12, Vers 32
Christus spricht: Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.

Lied EG 407 „Stern, auf den ich schaue“

Liebe Freunde.
 Das Lied „Stern, auf den ich schaue“, das wir gerade gehört haben, stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert. Viele Lieder im deutschen Evangelischen Gesangbuch, sind älter, z.B. aus dem 17. Jahrhundert und der Zeit des 30jährigen Krieges. Das merkt man auch an der Melodie dieses Liedes: das sind andere Harmonien, ein mehr schwingender Rhythmus und eine fließende Melodieführung – insofern ein typisches Lied jener Zeit.
 Die Komponistin dieses Liedes ist Wilhelmina Koch – meistens nur Mina oder Minna Koch genannt. Sie ist eine von nur vier Frauen, die wir als Komponistinnen im Gesangbuch finden. Und Mina Koch ist die älteste von diesen, die anderen drei sind aus dem 20. Jahrhundert.
 Sie wurde 1845 als Tochter eines Theologen geboren, der zuerst Pfarrer im Rheinland war und später als Professor und Superintendent nach Wittenberg berufen wurde. So lebte sie als junges Mädchen noch ein paar Jahre in dem großen Pfarrhaus am Wittenberger Kirchplatz, in dem schon Johannes Bugenhagen, ein enger Mitarbeiter Martin Luthers, gewohnt hat. Ich erwähne das deshalb, weil Bugenhagen für die Dänen eine große Bedeutung hat, denn er hat hier in Dänemark bei der Einführung der Reformation ab 1536 entscheidend mitgearbeitet.
 Wichtiger für des Pfarrers Töchterlein war aber, dass sie in Wittenberg eine gute und gründliche musikalische Ausbildung erhielt.
 1865 heiratete sie mit 20 Jahren den Pfarrer August Koch, mit dem sie zehn Kinder bekam. Elf Jahre nach der Heirat zog die Familie nach Elberfeld ins Bergische Land. Das liegt an der Grenze von Rheinland und Westfalen.
 Im Jahr 1887 besuchte Mina Koch ihren Bruder Karl, der als Pfarrer in der Nähe von Stendal im nördlichen Sachsen-Anhalt arbeitete. Das liegt grob gesagt knapp 100 km westlich von Berlin. Dieser Bruder war mit Johanna, einer Tochter von Adolf Krummacher verheiratet, welcher allerdings zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre tot war.
 Während dieses Besuch bei Bruder und Schwägerin lernte Mina Koch das Gedicht „Eins und alles“ kennen, das Krummacher 1857 in der Gedichtsammlung „Harfenklänge“ veröffentlicht hatte und was wir heute unter der Anfangszeile „Stern, auf den ich schaue“ kennen.
 Der Überlieferung zufolge war sie von dem Gedicht so beeindruckt, dass sie sich sofort ans Klavier setzte, den Text meditierte und eine Melodie auf ein Notenblatt schrieb. Nun ja, wie viel davon Realität ist und wie viel fromme, erbauliche Erzählung - ich will es nicht beurteilen. Auf jeden Fall schrieb Mina Koch damals die Melodie, die wir heute kennen und die immer noch gern gesungen wird.
 Der Text wurde – wie gesagt – 30 Jahre zuvor von Adolf Krummacher geschrieben. Der nun war Teil einen preußischen Theologen-Dynastie, die mehrere Pfarrer, Superintendenten und Theologieprofessoren hervorbrachte. Der bekannteste von ihnen war Adolfs Vater, Friedrich Wilhelm Krummacher. Er war ein über die Grenzen bekannter und populärer Erweckungsprediger, von dem berichtet wird, dass er eine außergewöhnliche Ausstrahlung hatte.
 Sohn Adolf hatte nun im gleichen Jahr, in dem sein Band mit Gedichten erschien, auch den Heidelberger Katechismus neu herausgegeben. Dieses in Frage und Antwort aufgebaute Unterrichtswerk und Bekenntnisbuch mussten Generationen von Konfirmandinnen und Konfirmanden ganz oder teilweise auswendig lernen. Ursprünglich war er als Unionskatechismus sowohl für Lutheraner als auch für Reformierte gedacht, tatsächlich wurde und wird er vor allem im reformierten und unierten Zweig des Protestantismus gebraucht. Aber den Beginn, die Frage 1 des Katechismus, kennt man auch über konfessionelle Grenzen hinweg:
 „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ Und die Antwort des Katechismus beginnt: „Dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein sondern meines getreuen Heilandes Jesu Christi eigen bin.“
 Und das klingt doch sehr ähnlich wie „Stern, auf den ich schaue“, wo ja jede Strophe mit „Alles, Herr, bist du“ endet. Sowohl in Frage 1 als auch im Lied geht es um die umfassende und entscheidende Bedeutung von Jesus Christus:

 Stern, auf den ich schaue,
 Fels, auf dem ich steh,
 Führer, dem ich traue,
 Stab, an dem ich geh,
 Brot, von dem ich lebe,
 Quell, an dem ich ruh,
 Ziel, das ich erstrebe,
 alles, Herr, bist du!

 Solche Häufungen wie in diesem Lied können leicht kitschig wirken. Aber Krummacher versucht hier Bilder zu finden, die er nebeneinander stellen kann, um die Bedeutung Jesu zu unterstreichen, oder besser aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Da wird sehr konzentriert Jesus ins Zentrum genommen. Alles ist auf ihn gerichtet. Und zwar in beiden Richtungen. Auf ihn kann ich vertrauen, er ist mir nah, wenn ich Orientierung brauche, das wird mir im Lied zugesagt. Aber das hat auch Konsequenzen für meine Lebensführung hat. Er ist einziger Trost, aber unsere Antwort darauf ist ein an ihm orientiertes Leben.
 Aber genau das ist ja die gute Nachricht in unserer ziellosen Gesellschaft. Wir machen die Erfahrung, dass Dinge, die wir für sicher hielten, gar nicht sicher sind. Das, was uns wichtig erschien, wird nichtig und klein, belanglos und irrelevant. Anderes, was wir nie beachtet haben, ist mit einem Mal eine wichtige Stütze, ein Licht im Dunkel.
 Neben den vielen „Sternen“, „Zielen“, „Quellen“, „Führern“, die uns in Anspruch nehmen wollen, sehen wir auf den Einen, der sich uns zuwendet und ihn, der der wahre Fels ist.
 Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass viel versprochen und wenig gehalten wird. Wir haben gesehen, wie scheinbar Großes in sich zusammengefallen ist. Irgendetwas sah kräftig und stabil aus, aber auch das hatte ein kurzes Verfallsdatum. Wir haben gesehen, wie die Macht auf tönernen Füßen stand und wie Götzen stürzten.
 Und da wir ja jetzt gerade in einer Zeit leben, wo uns alle Vorhersagen vage und unsicher erscheinen müssen, bleiben wir verunsichert zurück. Manchmal ist es gar nicht die konkrete Bedrohung, die uns Angst macht, sondern einfach, dass wir nicht wissen, wie es weiter geht, und was die nächsten Monaten oder Jahren bringen werden.
 Deshalb ist das Lied ganz und gar nicht überholt. In seiner Aufzählung, nimmt er hautsächliche biblische Bilder zu Hilfe. So wird Gott in den Psalmen und in anderen Büchern der Bibel angesprochen. Sicherlich spricht mich, das eine oder andere Bild mehr oder weniger an. Aber deshalb gibt ja diese Reihe, es deckt verschiedene Weisen, Gott anzusprechen, ab: Quelle und Ziel, aber auch das Brot für den Weg - hier sind sie! „Alles, Herr, bist du.“ Der einzige Trost, mehr brauchen wir am Ende nicht!
 In der zweiten Strophe erkennen wir nun etwas, was wir aus den Katechismen kennen, nämlich die Frage-Antwort-Form:

 Ohne dich, wo käme
 Kraft und Mut mir her?
 Ohne dich, wer nähme
 meine Bürde, wer?
 Ohne dich zerstieben
 würden mir im Nu.
 Glauben, Hoffen, Lieben
 alles, Herr, bist du!

 Die Antwort auf die Frage ist klar: ohne dich geht alles verloren! Und auch hier nimmt Krummacher wieder biblische Worte zu Hilfe: das, was Paulus im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth als umfassende Werte benennt, hören wir auch hier: Glaube, Hoffnung, Liebe!
 Das war bei Krummacher und seinen Zeitgenossen ein ausgesprochen populärer Gedanke: das, was Paulus der zerstritten Gemeinde in Korinth ins Stammbuch schreibt, das war Kern ihrer Frömmigkeit: Glaube, Hoffnung, Liebe.
 An diesem Punkt scheiden sich manchmal die Meinungen über dieses Lied: ist das nicht zu viel Weltflucht, ist das nicht zu viel zurückgezogene persönliche Frömmigkeit? Müsste uns die Zusage Gottes nicht bemächtigen, in dieser Welt konsequent nach Gottes Willen zu leben und hier – und nicht nur in unserem Inneren - etwas zu verändern: im Umgang miteinander, in den Werten, die gelten; im konkreten Verhalten im Job, in der Schule, in der Gemeinde, in der Familie; und auch bei der Beurteilung des anderen?
 Ein bisschen ähnlich klingt es auch in der letzten Strophe:

 Drum so will ich wallen
 meinen Pfad dahin,
 bis die Glocken schallen
 und daheim ich bin.
 Dann mit neuem Klingen
 jauchz ich froh dir zu:
 nichts hab ich zu bringen,
 alles, Herr, bist du!

 Das klingt ein bisschen nach Pilgern und Wallfahrten, und das ist im Augenblick ja im Trend, also insofern auch ganz interessant. Aber es geht um mehr, denn das „Pilgern“ beschreibt nicht nur den Moment des Pilgern selbst, sondern auch das Ziel des Pilgerweges. Deshalb ist das Lied übrigens in manchen Gegenden auch bei Bestattungen sehr beliebt. Aber das ist okay. Das Lied sagt es, wie es ist. Ich werde nicht ewig hier bleiben können. Deshalb wird gefragt: und was steht dann dort, wenn mein Weg zu Ende geht?
 Ich höre noch ein bisschen den Nachklang von Frage 1 „mein einziger Trost im Leben und im Sternen - dass ich beides, im Leben und im Sterben, meines getreuen Heilandes Jesu Christi Eigentum bin“.
 Am Ende meines Weges auf dieser Erde, steht eben nicht die schwarze Grube, das Nichts, sondern da steht Gott, „alles, Herr, ist du“. Das Nichts erleben wir schon oft genug mitten in diesem Leben, wenn wir hohlen Worten und Versprechungen, egoistischem Verhalten, nichtigem, sinnlosem Tun oder Selbstgerechtigkeit begegnen.
 Wenn die Glocke für mich klingt, bin ich nicht irgendwo, sondern zuhause angekommen. Ich lege alles ab, und bringe nichts mit. Aber genau so werde ich von Gott in Empfang genommen. Denn: Alles, Herr, bist du.
 Es wäre vermessen, wenn ich jetzt sagen würde, dass ich wüsste, wie es dann aussieht. Krummacher hat offenbar eine recht musikalische Vorstellung davon, wenn er von „frohem Klingen“ spricht. Ja, sicherlich auch das, aber ganz sicher noch viel mehr.
 Vor allem wird mir in dieser letzten Strophe über meinen Pilgerweg deutlich, dass alles zusammen gehört: woher ich komme, wohin ich gehe, und was mein Leben jetzt ausmacht!
 Die Antwort auf diese Fragen ist immer Jesus Christus, der Stern, der Fels, die Quelle, das Ziel. Die Bibel kennt das, dass man Gott so anspricht und anruft. Das Lied bekennt es in Worten, die hundertfünfzig Jahre alt sind. Mein Gebet fragt danach und bittet darum, dass es meine Gegenwart und Zukunft ist, in dieser Welt und in allem, was kommt: ich schaue auf dich, Gott, alles bist du.

Und der Friede Gottes, der größer ist als alles, was wir mit unserem Verstand begreifen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Er halte unsere Hoffnung lebendig und bewahre uns auf allen unseren Wegen. Amen