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ANDACHT vom 19. APRIL 2020 / Deutsch Reformierte Kirche zu Kopenhagen

Liebe Freunde,
 auch heute stehe ich wieder allein in unser Kirche. Das ist schade, ich wäre gerne mit Euch zusammen, dann würden wir Gottesdienst feiern und danach beim Kirchenkaffee zusammensitzen und uns unterhalten.
 Aber so ist es nicht, so kann es zurzeit nicht sein. Die Maßnahmen, die eine Ausbreitung der Ansteckung mit dem Corona-Virus vermindern sollen, umfassen auch die Schließung der Kirchen und die Absage aller Gottesdienste. Dieses geschieht letztendlich zum Schutz aller, insbesondere aber zum Schutz der besonders Gefährdeten.
 Das ist bitter für uns als Gemeinde; aber wenn wir es als Akt der Rücksichtnahme, als die Art der Nächstenliebe, die heute von uns erwartet wird, als Moment der Solidarität mit und Sorge für die Schwächeren verstehen, dann können wir das akzeptieren und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Gemeinde lebt von der Gemeinschaft, nun sind wir herausgefordert, die Gemeinschaft mittelfristig anders zu leben, als wir es gewohnt sind. Wir werden auch daran wachsen!
 Und ich bin bei all dem ja noch privilegiert. Ich bin hier in der Kirche, ihr könnt nicht hier sein. Ich bin allein, und viele von Euch sind auch allein in diesem Moment, vielleicht zu zweit oder mit ein paar Familienmitgliedern. Eure Situation ist also so gesehen schlechter als meine, der ich zwar allein bin, aber in unsere Kirche sein kann. Ich merke, wie viel Räume bedeuten können, eine Kirche, das ist eben mehr als aufeinandergesetzte Steine.
 Was heißt also schon „allein“ in diesen Tagen? Vielleicht können wir dieses – zugegebenermaßen erzwungene – Innehalten auch für ein selbstbestimmtes Innehalten nutzen, in dem wir den Blick aufs Wesentliche schärfen.
 Nun habe ich gesagt, dass ich allein in der Kirche bin. Das stimmt insofern nicht, weil ich mich einerseits mit Euch verbunden fühle, meine Phantasie reicht durchaus, mir vorzustellen, dass ihr in den Bänken sitzt, und andrerseits liegt hier vor mir eine Bibel, Zeugnis davon, dass Gott mit uns spricht. Er wendet sich uns zu, so dass wir eben doch niemals allein sind. Texte der Bibel begleiten uns, oder fallen uns in bestimmten Situationen ein und werden so ein Teil unseres Weges.
 Die Bibel, die hier vor mir liegt, ist die große, in Leder gebundene Bibel, die auf dem Abendmahlstisch in unserer Kirche liegt. Wir haben sie vor gut achtzig Jahren, im November 1939, zum 250. Kirchengeburtstag der Reformierten Kirche geschenkt bekommen. Sie liegt hier, an dieser zentralen Stelle in unser Kirche, damit deutlich wird, was im Zentrum der Gemeinde und des Gottesdienstes steht: Gottes Wort, das wir lesen und hören, verkündigen und an andere weiter sagen.
 Diese Bibel ist in aller Regel aufgeschlagen. Und weil ein Buch am besten aussieht, wenn es in der Mitte aufgeschlagen ist, machen wir das auch so. Und jetzt möchtet ihr natürlich wissen, was da aufgeschlagen ist, oder?
 In der Mitte der Bibel stehen die Psalmen, und deshalb schlage ich in der Regel einen der Psalmen auf, etwas Psalm 25 oder 126 oder Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte“.
 Das ist übrigens ein nützlicher Tipp: wenn man in der Bibel lesen möchte, aber nicht weiß, wo anfangen. Man kann sie einfach in der Mitte aufschlagen, und dann landet man bei den Psalmen und dort findet sich vieles, was auch ohne Theologiestudium für die Wechselfälle und Herausforderungen des Lebens selbst im 21. Jahrhundert interessant und relevant ist.
 Ich habe es als Seelsorger in Deutschland oft erlebt, dass Menschen in einer späteren Phase der Demenz, wenn viele Erinnerungen verschwunden waren, Lieder aus dem Gesangbuch oder eben Texte der Bibel vor sich hin sprachen, zum Beispiel den Psalm 23 in der bekannten Fassung der Lutherbibel.
 Wenn sich das Fenster zur Welt für diese Menschen also mehr und mehr zu einem kleinen Guckloch verengte, dann waren solche Trostworte offensichtlich das, was in Erinnerung blieb und Bedeutung bewahrte. Und wenn jemandem der Gedanke „der Herr ist mein Hirte“ durch seine immer kleiner werdende Welt begleitet und trägt, so ist es sicherlich nicht das Schlechteste.
 Dieser Psalm 23 ist – gerade in weit verbreiteten Übertragung und Nachdichtung durch Martin Luther – für Menschen deutscher Muttersprache bekannt wie wohl kein anderer Text der Bibel. Ja, ich behaupte sogar, dass er zu den bekanntesten Texten deutscher Sprache überhaupt gehört und dass viele ihn im Ohr haben oder sogar auswendig können. Er gehört zum kollektiven Gedächtnis.
 Ich habe ihn in der alten Bibel auf dem Abendmahlstisch aufgeschlagen und ich lese ihn in der Fassung der Lutherübersetzung:

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

 Auf einen der Gedanken, die wir gerade in dem 23. Psalm gehört haben, möchte ich heute mein Augenmerk legen: „Du schenkst mir voll ein.“ übersetzt Luther. In einer neueren Übersetzung, die ich hier in Dänemark gerne benutze, weil sie sowohl biblisch korrekt als auch in einer heute zugänglichen und verständlichen Sprache spricht, heißt es: „Du füllst meinen Becher bis zum Überfließen!“
 Das ist ein interessantes Bild, zumal es mich an ein anderes erinnern, was in dieser Corona-Krise immer wieder gebraucht wird. Die Aussagen zur Krise und ihrem möglichen weiteren Verlauf, vor allem zu der Frage, wann und wie sie denn zu Ende gehen wird, könnten breiter nicht gefächert sein.
 Es ist einen Binsenweisheit, wenn wir sagen, wir können nicht sagen, was in einem halben Jahr sein wird. Allerdings können wir eine Haltung zu dieser Zukunft entwickeln!
 Und da kommt nun das Bild vom Becher wieder ins Spiel: man sagt ja, dass für einen Pessimisten der Becher halb leer und für einen Optimisten halb voll ist. Ein einigermaßen griffiges Bild, wenn auch inzwischen ziemlich abgedroschen. Der Pessimist auf der einen Seite sieht die möglichen Gefahren übergroß und weiß, was alles schief gehen kann. Das schützt ihn möglicherweise vor Enttäuschungen, verdunkelt aber seine Gegenwart, weil er die dunklen Wolken am Horizont schon jetzt über sich sieht, auch wenn er noch gar nicht weiß, in welche Richtung sie ziehen. Der Optimist dagegen, sieht nur das, was heiter ist. Die Sonne scheint jetzt, was soll ich mir Gedanken über Wolken machen. Er wird so aber die möglichen Hinweise und Vorzeichen nicht sehen, und dann unvorbereitet sein, wenn es einmal nicht glatt gehen sollte.
 Das ist holzschnittartig, das weiß ich, ich möchte aber zeigen, dass beide den gleichen Fehler machen, oder in die gleiche Falle tappen. Sie sehen nämlich nur auf das, was ist, das halb volle oder das halb leere Glas. Die knappe Gegenwart hat ein Übergewicht bekommen. Wenn sie nur auf das starren was ist, dann bleiben sie auch bei sich selbst und bei unseren Möglichkeiten. Aber unser Blick auf das, was ist, ist immer ein Fragment. Niemals erfassen wir alles, und unsere Fähigkeiten, in die Zukunft zu schauen, sind erst recht limitiert.
 Deshalb weist uns der Psalm 23 auf eine weitere Möglichkeit, die außerhalb der Alternative Optimismus oder Pessimismus liegt, außerhalb der Betrachtungsweise „halb voller oder halb leerer“ Becher.
 Du schenkst mir voll ein, bzw. du füllst meinen Becher bis zum Rand. Es geht also gar nicht allein um den Inhalt des Bechers, sondern um den, der ihn uns füllt. Wenn ich nur den Becher sehe, dann bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mich zwischen der Betrachtung von halben Sachen zu entscheiden.
 Wenn ich aber den Blick öffnen kann und mich und meinen Lebensbecher in dem größeren Zusammenhang sehe, erkenne ich neue Horizonte. Nicht „ich“ bin es, der meinen Becher füllt, der dafür sorgt, das ich zu trinken habe, sondern „Du“: Du schenkst mir voll ein, du füllst den Becher bis zum Überfließen.
 So kommt neben dem Pessimismus und dem Optimismus, die beide auf das Augenblickliche starren und ihr Leben davon bestimmen lassen, als drittes die Zuversicht dazu, die an Veränderung, an Chancen in der Zukunft glaubt. Das ist die Alternative sowohl zum „ich hab’s doch schon immer gesagt“ des Pessimismus als auch zum „Leben im Jetzt“ des Optimismus.
 Eingebettet in etwas, was größer ist als meine momentane Wahrnehmung, können wir darauf vertrauen, dass auch unsere Zukunft, die uns zerbrechlich und unsicher geworden ist, in guten Händen ist. Nämlich bei dem, den der Psalm einen fürsorglichen Hirten nennt, und der, auch wenn wir nicht wissen, wie voll unser Becher nun wirklich ist, sagt, dass er ihn bis zum Überfließen füllen wird.
 Ich weiß es nicht, wie es aussehen wird, aber die Zuversicht, die mich über den Moment hin trägt, ist mir wertvoller als der trübe Pessimismus oder der ahnungslose Optimismus, die beide glauben, in ihrem eigenen Becher die Zukunft lesen zu können. Lass uns zusehen, dass diese Hoffnung, die über den Tag hinaus reicht, die Zuversicht, die die Möglichkeiten der Zukunft mit auf dem Plan hat, erhalten bleibt und uns auch dann trägt, wenn viele unserer Fragen ohne Antwort bleiben.
 Im letzten Vers des gereimten Psalms 23 aus dem Genfer Psalter heißt es:

„Ja, Gutes und Erbarmung werden mir
zur Seite stehen in allen meinen Tagen,
und bergen wird mich, frei von allen Plagen,
das Haus des Herrn, mein Obdach für und für.“

 Ich werde in unserem „Haus des Herrn“, in unserer reformierten Kirche auf Euch warten und an Euch denken, die Bibel auf dem Tisch, in Gedanken und im Geist mit Euch verbunden, bis wir uns wiedersehen. Bis dahin halte Gott Euch in seiner Hand!

 Und der Friede Gottes, der größer ist als alles, was wir mit unserem Verstand begreifen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Er halte unsere Hoffnung lebendig und bewahre uns auf allen unseren Wegen. Amen