ANDACHT vom 14. MÄRZ 2020 / Deutsch Reformierte Kirche zu Kopenhagen

Liebe Freunde.
 Samstag, 14. März 2020, kurz nach acht Uhr . In ein paar Stunden wird Dänemark wegen der Ausbreitung des Coronavirus seine Grenzen zu den Nachbarländern schließen. Die Staatsministerin Mette Frederiksen hat es gestern bekannt gegeben.
 Es ist ein prachtvoller Morgen. Der Himmel erstrahlt in makellosem Blau. Als vor zwei Stunden die Sonne aufging, hatte sie keine Chance, ihr Gold über die Wolken auszubreiten - es waren keine da. Ich mache mich auf den Weg, mir meine Lieblingsbrötchen für ein ruhiges Frühstück in meiner Küche zu holen. Doch draußen wirkt alles etwas unwirklich. Es ist ruhig, zu ruhig für einen Samstagmorgen in Kopenhagen, kaum Menschen auf den Straßen, kaum Autos. Man könnte meinen, es sei Gründonnerstag oder der Morgen des Heiligabend, wenn fast alle Geschäfte in Kopenhagen geschlossen sind.
 Ich trete aus der Tür, es ist kalt. Ich habe mir Handschuhe angezogen und eine warme Mütze aufgesetzt. Ich entscheide mich einen Umweg zu machen und ein paar Schritte durch den königlichen Garten zu gehen. Es ist noch Eis auf den Pfützen, in der letzten Nacht hat es gefroren. Ich gehe kreuz und quer, biege hier ab, gehe dort geradeaus. Ich gehe vorbei an den Grasflächen mit den Krokussen, die ein Geschenk der niederländischen Königin waren und die jetzt gerade blühen. Ich kann ein Foto machen, mit Rosenborg Slot im Hintergrund. Das ist normalerweise nicht möglich, sonst stehen mir immer Touristen mit ihren Smartphones im Bild. Heute ist niemand da.
 Ein paar Joggerinnen und Jogger, ein paar, die ihre Hunde lüften. Einige erwidern meinen Gruß oder mein Lächeln, andere sind nur mit sich selbst beschäftigt. Es sind nur wenige, denen ich begegne. Zwei chinesische Touristinnen mit Mundschutz kommen mir entgegen, ich biege rechtzeitig ab, ich will sie nicht irritieren.
 Ich schaue bei Hans Christian Andersen vorbei, der wie immer einsam auf seinem Denkmal sitzt - und bei den freundlichen Drachen auf dem Kinderspielplatz. Für Kinder ist es wohl noch zu früh. Am Herkulespavillon und am Rosengarten vorbei und durch den Staudengarten an der Nordseite von Kongens Have: Etwas planlos gehe ich hin und her, ich möchte einfach das schöne Wetter auskosten.
 Weil es an diesem Morgen so ruhig und unaufgeregt ist, fallen die Dinge auf, die man sonst in der Hektik des Alltags leicht übersieht. Ich sehe die Krähen, die mit dem Nestbau begonnen haben. Und an manchen Büschen sieht man schon die ersten Knospen, helles Grün lässt die Blätter erahnen, die sich bald entfalten werden. Dazwischen noch die Früchte des Vorjahres, die über den Winter die Farbe verloren haben.
 Unter dem Eindruck des Coronavirus und vor allem aufgrund der Maßnahmen der dänischen Regierung hat sich unser Leben verändert. Einiges ist zum Stillstand gekommen, viele haben sich zurückgezogen. Die Menschen meiden den Kontakt mit anderen.
 Dieses alles wird uns verändern.
 Man kann über die Maßnahmen denken, was man will. Man kann sie diskutieren oder kritisieren. Sind sie zu scharf, nicht scharf genug oder genau richtig? Wir werden erst in einigen Wochen wissen, was richtig war und was nicht – und vielleicht nicht einmal dann. Aber wir gehören zu den wenigen glücklichen Menschen auf dieser Welt, die ihre Meinung über das, was die Regierung macht oder anordnet, frei äußern können. Viele andere können das nicht.
 Das Ziel ist klar und unbestritten, mit den Maßnahmen soll versucht werden, den Verlauf der Corona-Infektionen zu verlangsamen und so dafür zu sorgen, dass unser Gesundheitssystem die auftretenden Fällen bewältigen kann. Es geht nicht um die, denen eine COVID-19 Erkrankung wenig anhaben kann. Sondern es geht um die, für die eine Erkrankung lebensgefährlich sein kann. Es geht um die verletzlichsten in unserer Gesellschaft, es geht um Solidarität!
 Deshalb ist die momentane Situation eine Nagelprobe nicht nur für unsere Gesellschaft als Ganze, sondern auch für jede und jeden Einzelnen.
 Sind wir bereit, nicht von uns aus zu denken, sondern die Perspektive zu wechseln und das Wohl des anderen zu sehen – in diesem Fall das Wohl dessen, der unsere Rücksichtnahme braucht. Ja, mehr noch: sind wir bereit unsere Prioritäten neu zu ordnen und das Wohlergehen der Schwächeren vor unsere eigenen Interessen zu stellen.
 In einigen Wochen werden wir klüger sein. Wir werden wissen, ob wir die Probe bestanden haben! Auf jeden Fall werden wir uns verändert haben. Nach der Krise werden wir nicht mehr dieselben sein wie vorher.
Darin kann man - wenn man will - auch etwas Positives oder Gutes sehen. Wir sind angehalten, uns mit den wirklich existentiellen Dingen zu beschäftigen. Was ist wirklich wichtig, und was lenkt uns ab? Was hindert uns vielleicht daran, die wirklich wichtigen – oder auch einfach die versteckt schönen Dinge des Lebens - zu sehen.
 So wie ich im königlichen Garten einige Dinge entdeckt habe, die ich nicht gesehen hätte, wenn ich nur schnell von einem Ende zum anderen hindurchgeeilt wäre.
Was ist wirklich verlässlich, was trägt uns?
 Vielleicht entdecken wir aber auch, indem wir unserer Angst begegnen, was uns wirklich wichtig und bedeutsam ist.
 Ich hoffe für uns, dass wir erfahren, was uns hält und tröstet. Ich hoffe, wir lernen das Schöne, was wir zu oft übersehen, wieder zu entdecken und seinen Wert wiederzuerkennen.
Die Krise wird uns herausfordern, deshalb sollten wir auf das, was uns jetzt hält und tröstet und Sicherheit gibt, besonders achten.
 In allen Zeiten haben Menschen ihre existentiellen Fragen im Horizont des Glaubens betrachtet, sie haben Trost im Gebet, im Lesen der alten Texte, in der Meditation der zentralen Sätze des Glaubens gefunden – und auch in der Gemeinschaft der anderen Mit-Glaubenden.
 Jesu Worte sind oft an solche Fragenden gerichtet, deshalb möchte ich zum Abschluss ein paar Verse aus der Bergpredigt Jesu lesen, die im Matthäusevangelium in den Kapiteln 5 bis 7 überliefert ist: Zu Anfang stehen dort die sogenannten Seligpreisungen. Und dort hören wir, was Jesus zu den Menschen damals und auch zu uns heute sagt – ich lese den Text in der Neuen Genfer Übersetzung.:

„Glücklich zu preisen sind die, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Glücklich zu preisen sind die, die trauern; denn sie werden getröstet werden.
Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen; denn sie werden die Erde als Besitz erhalten.
Glücklich zu preisen sind die, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten; denn sie werden satt werden.
Glücklich zu preisen sind die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.“
Amen

Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa hat ein Gebet von Pfarrer Sören Lenz für die von Covid-19 Betroffenen veröffentlicht, das ich noch sprechen möchte.

Gott, wir sind unsicher und besorgt
Die Dinge geraten außer Kontrolle
Die Angst verbreitet sich schneller als der Virus
Mein Nachbar wird zu einer Bedrohung
Die Grenzen sind geschlossen
Menschen werden isoliert

Gott, wir verstehen die Maßnahmen und die Versuche, die Sicherheit zu gewährleisten
Gott, wir sind unsicher und besorgt
Du bist auf die Erde gekommen, um zu heilen, wo sich Angst und Misstrauen ausbreitet
Du bist auf die Erde gekommen, um zu trösten, wo Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit zu spüren sind
Du bist auf die Erde gekommen unter den Ausgestoßenen und Ausgegrenzten

Wir beten zu Dir:

Gib uns den Mut, Krankheit und Tod ins Auge zu sehen und niemals aufzugeben.
Gib uns die Kraft, Hoffnung zu verbreiten, wo Angst die Welt verdunkelt
Gib uns das Durchhaltevermögen, Menschen zu ermutigen, die sich einsam und ausgeschlossen fühlen
Gott, wir wissen, dass wir als Kirchen durch deinen Geist verbunden sind, auch über die Grenzen zwischen uns hinaus.

Unser Vater im Himmel….